#23 Loslassen

Ein sonniger dennoch kühler Frühlingstag.

Wir saßen auf deiner Lieblingsbank.

Den Blick auf den Aa-See.

 

Dem Weg dorthin war einer unserer ach so üblichen

„Mutter-Tochter-Konflikte“ vorausgegangen. 

„Entweder mit Rollstuhl oder gar nicht“,

hatte ich am Ende fast schon geschrien.

 

Es war kein weiter Weg – auf deinen eigenen Beinen

dennoch inzwischen zu anstrengend.

 

Du würdest dich schämen, wenn die Nachbarn

dich im Rollstuhl sähen, hattest du wütend geantwortet.

 

Ich hielt an meinem Stolz fest – Du hast deinen

an diesem Tag überwunden.

 

Der Rollstuhl stand neben dir -

deine Augen waren auf`s Wasser gerichtet.

 

Ich – neben dir sitzend – saugte mit den meinigen

jede Faser deines Seins intensiv in mich auf.

Wie oft würden wir hier noch sitzen können?

 

Bei allem Trotz in mir fühlte ich an diesem Tag

eine mir ungewohnte Nähe zu dir.

Vielleicht schon ahnend, dass es unsere letzte

gemeinsame Zeit sein könnte.

 

Der Wind wob die Blätter der Bäume sanft hin und her.

Vor uns watschelten fröhlich gackernd zwei Enten

den kleinen Weg entlang in Richtung Wasser.

 

Du folgtest mit deinen traurigen, trüben Augen

den fröhlichen Enten.

 

Ganz langsam legtest du deine Hand auf meinen Oberschenkel.

Sofort folgte ich meinem Impuls, griff sie

und hielt sie fest umklammert.

 

Kalt war sie – fast schon leblos!

 

In diesem Moment flüstertest du mit deiner inzwischen

leisen, kraftlosen Stimme:

 

„Es tut mir leid! Du hast so viel Mist erlebt mit mir und durch mich!

Es wäre schön gewesen, dir ein besseres Leben zu ermöglichen.“

 

Ich spürte das flüssige Salz meine Wangen entlanglaufen.

Gleichzeitig Wärme und Dankbarkeit in mir aufsteigen.

Traurige Dankbarkeit! Wärmende Traurigkeit!

 

Deine Offenheit in diesem Moment – das Loslassen dessen,

was du jahrelang verborgen in dir getragen hast, das Aussprechen

bisher verschwiegener Gefühle trösteten mich.

Ich fühlte mich gehalten von dir.

 

Manchmal war dein Leben wirklich absolut nicht mein Ding!

 

Als du an diesem Tag losgelassen hast – fühlte ich mich zum ersten Mal gehalten.

 

Loslassen bedeutet also manchmal auch gehalten werden.

 

 

Sandra B., Münster

herzblut floss spät, aber rechtzeitig *

 

 

 * dieser Text entstand im Rahmen der zweiten herzblut-Werkstatt am 12.10.19

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Kommentare: 3
  • #1

    Paula (Sonntag, 09 Februar 2020 22:25)

    Es hat mich bewegt !!!

  • #2

    Cordelia (Donnerstag, 23 April 2020 09:15)

    Und manchmal muss man selbst loslassen, wenn der andere es nicht kann und fühlt sich gehalten durch den Kraftaufwand, der betrieben wird, um bloß nicht loszulassen. Zwischen den Zeilen ist trotzdem immer alles klar. Danke, dass ich es nun einmal ausgesprochen miterleben durfte.

  • #3

    Thomas (Freitag, 01 Mai 2020 13:25)

    so ein spürbar krass tiefer Moment, dass ich schon beim Lesen das Knistern zu hören, den Wind zu riechen, das Innehalten zu schmecken glaube.
    wie gut, dass Leben uns diese Augenblicke geben kann. Wie gut auch, wenn wir immer bereiter werden, sie zu bemerken und zu erlauben. Puh...